Altaira Caldarella, Wider die Angst! Auf dass wir uns gemeinsam vom Bedürfnis nach Befreiung bewegen lassen

Gastbeitrag

Vergangenes Jahr habe ich bei Gintarė Sokelytės partizipativer Kunstinstallation mitgemacht. Wir, die fünf Teilnehmenden, wurden an einer sternförmigen Skulptur mit Seilen an den Hand- und Fußgelenken aufgehängt; uns wurden Fragen gestellt und wir wurden bei deren Beantwortung gefilmt. Es war körperlich unheimlich anstrengend, dort zu hängen. Auch die Fragen hatten es in sich: Was ist Angst für dich? Was ist Macht? Was ist Ordnung? Diese Fragen als in Deutschland aufgewachsene migrantische Person in der eigenen Muttersprache zu beantworten, hat es bereits in sich – aber dabei fast nackt an der Skulptur zu hängen und aufgenommen zu werden, machte es nicht leichter. Bei der letzten Frage, auf die ich mich eigentlich am meisten gefreut hatte, musste ich leider aufgeben. Ich hatte einfach keine Kraft mehr. In den Pausen zwischen den Sessions – wir haben nicht alles auf einmal aufnehmen können, da es schlichtweg zu anstrengend war –, haben Gintarė und ich uns immer wieder unterhalten. Hinter uns der Green Screen. Und die Skulptur. Die Erfahrung selbst löste einen Strudel an Gedanken aus, während wir weiter am Kunstwerk arbeiteten. Ich schrieb zu der Zeit meine Masterarbeit. Aus einer marxistisch feministischen Perspektive habe ich versucht zu ergründen, in was für einem Verhältnis das Begehren nach gesellschaftlicher Transformation zur Befriedigung (oder eher der oftmaligen Unbefriedigbarkeit) von materiellen Bedürfnissen steht. Mich trieben insofern bereits die Fragen um, wie Macht und Körperlichkeit miteinander vermittelt sind. Besonders, ob sich Macht auch in unseren Körpern artikuliert – und wenn ja, wie?

Ich habe mich in dieser Arbeit also einerseits mit der Frage beschäftigt, ob die Verhältnisse heute noch, mit Herbert Marcuse gesprochen, ein Bedürfnis nach Befreiung hervorbringen; und andererseits wie es, mit Agnes Heller gesprochen, um die materiellen Bedingungen eines solchen Bedürfnisses bestellt ist. Gleichzeitig habe ich versucht herauszufinden, ob und wie diese Fragen in Bewegungskontexten auftauchen, erforscht oder sogar bereits als zu politisiert verhandelt werden. Ausgehend von einem materialistischen Bedürfnisbegriff[1] habe ich mich daher einer der im Moment florierendsten sozialen Bewegungen unserer Zeit zugewandt: dem feministischen Streik. Dieser ist 2017 in Argentinien aus der Ni-Una-Menos-Bewegung hervorgegangen. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich deren Organisations- und Protestformen, ihre Analysen und Ästhetiken rund um den Globus. In nur wenigen Monaten (!) entstand hieraus eine globale feministische Gegenmacht, die sowohl faschistische, sexistische und rassistische Gewalt als auch Prekarität und Armut als Ausdrucksformen einer kapitalistischen Totalität zu analysieren, problematisieren und zu bekämpfen weiß. Der feministische Streik entwickelt dabei, ausgehend von feminisierten Körpern – insbesondere der Gewalt und Prekarität, der sie tagtäglich ausgesetzt sind –, Widerstandsformen, die zwar in Anlehnung an den gewerkschaftlichen Streik ersonnen werden, doch nicht dabei stehen bleiben: Bestreikt werden kann nicht bloß die Lohnarbeit, sondern eine jede Arbeit, die nicht frei ist – also unfreiwillig geschieht oder von patriarchalen oder rassistischen Rollenverteilungen überformt ist; oder eine jede Institution, in der Strukturen demokratischer Selbstbestimmung und egalitärer Verfügungsmacht über Ressourcen fehlen; oder eine jede Beziehung, in der die Sorgearbeit nicht auf Reziprozität beruht.

Um feministisch zu streiken, müssen wir jedoch imstande sein, die Verhältnisse, in denen wir uns bewegen, als unfreie zu erkennen. Unsere Körper verraten uns dies, wenn wir uns gemeinsam in die Lage versetzen, ihnen zuzuhören. Das Unbehagen, das man an den Verhältnissen eigentlich fühlt, und das einem zugleich als FLINTA abtrainiert wird, um unter den gegenwärtigen Macht- und Gewaltverhältnissen zu funktionieren, ist nicht einfach aus den Augen aus dem Sinn. Oder – aus dem Körper aus dem Bewusstsein. Es sitzt in einem. Und zwar tief. Zu tief. Ich würde fast behaupten, es haust oftmals in unseren Körpern als Verdrängtes. Gintarės Installation bringt, so mein Eindruck, den verdrängten Schmerz, der damit einhergeht, tagein tagaus unter Bedingungen von Herrschaft und Gewalt das eigene Leben aufrecht erhalten zu müssen, treffend zum Ausdruck. Während der gemeinsamen Arbeit mit Gintarė und ihrer Kunst habe ich erstmals für mich verstanden, dass Angst sowohl als Ausdruck dieses Verdrängten, sowie als Gegenaffekt zum Begehren nach gesellschaftlicher Veränderung interpretiert werden könnte. Natürlich nicht in einer solch statischen Gegensätzlichkeit; Resignation, Kraftlosigkeit, Verzweiflung – die Liste ließe sich ewig weiter spinnen – spielen natürlich auch eine Rolle. Aber Angst empfinde ich seit der Erfahrung mit Gintarės Kunstwerk als besonders relevant – denn Angst lähmt.

Wer die Möglichkeit hat, die eigenen Bedürfnisse angstfrei zu befriedigen – und wer nicht –, ist über eine Gesamtheit herrschaftlicher Verhältnisse vermittelt, die es in ihrer Gesamtheit zu kritisieren gilt. Die Syntax von Gintarės Arbeit erlaubt es uns dabei auf neue Weise zu fragen, wie wir mit unseren – ein- oder aber auch festgebundenen – Körpern gemeinsam und feministisch die Verhältnisse bestreiken lernen können; wie wir uns gegenseitig dazu verhelfen, uns von diesen zu lösen und dabei unsere identitätsspezifischen Vulnerabilitäten als geschichtlich und sozial hervorgebrachte zu entmystifizieren. Der Streik setzt genau daran an. Er analysiert abstrakte Herrschaftsverhältnisse ausgehend von ihrer situierten Konkretion – der Erfahrung derjenigen, die sich am Aufbau des Streiks beteiligen. In einer Bewegung gemeinsamer Selbsterfahrung und Wissensproduktion entwickelt der Streik dabei neue Strategien des Widerstands, die nach und nach darauf zielen, die Welt in eine sorgende zu verwandeln und das Sorgen selbst aus der Knechtschaft patriarchaler, kolonialer und kapitalistischer Vergesellschaftung zu befreien.

Um diese auch körperlichen Formen der feministischen Bewusstwerdung und Solidarisierung voranzutreiben, braucht es jedoch Strukturen; braucht es Zeit, Kraft und Ressourcen. Eine nennenswerte Besonderheit des feministischen Streiks ist es, dass er für das Streiken selbst streikt. Er spinnt Netze der Solidarität und baut damit die Infrastruktur auf, die es uns erst erlaubt, alle Verhältnisse, die auf der meist unbezahlten, zur romantischen oder familialen „Liebe“ degradierten feminisierten Arbeit beruhen, als unfreie zu erkennen und anschließend durch das Streiken zum Einsturz bringen zu wollen. Wie viele von uns hängen an einem unsichtbaren „gintar’schen“ Galgen, der sie dazu zwingt aufzugeben, bevor sie überhaupt ein Bedürfnis nach Befreiung entwickeln konnten? Es ist bereits politisch, dafür zu sorgen, dass am Ende des Tages genug Essen und Stühle für alle am Tisch sind – jetzt müssen wir dies nur noch begreifen und bestreiken lernen.

Letztendlich soll die Sorge um einander und das Sorgen selbst zum Ausgangs- und Zielpunkt aller Sozialität werden, zu einer allgemeinen Aufgabe und Pflicht. Genau aus diesem Grund muss Fürsorge in ihrer herrschaftsstabilisierenden Überformung bestreikbar werden, damit ihrer statt, die widerständigen Ausdrucksformen von Liebe, Sorge, und Solidarität sich nicht bloß als Antizipation utopischer Momente entfalten, sondern in kollektiven Tatendrang übersetzt werden können. Letztendlich ließe sich das Bedürfnis danach, „nos mueve el deseo de cambiarlo todo“ (zu Deutsch: „uns bewegt das Begehren, alles verändern zu wollen“) in Menschen zu erwecken, sich insofern als eine konkrete Strategie politischer Mobilisierung des feministischen Streiks verstehen. In diesem Sinne gilt es, durch den enthusiastischen Ausdruck unseres eigenen Begehrens nach Befreiung – und mit einer gewissen Experimentierfreude – immer wieder aufs Neue zu versuchen, dieses ebenso in anderen Menschen aufleben zu lassen; bis das „wir“, das das große Ganze gemeinsam und radikal verändern will, sich soweit erstreckt und ausdehnt, dass alle Arbeit des Sich-und-Andere-am-Leben-Erhaltens verallgemeinert und die dafür notwendigen Ressourcen für wirklich alle zugänglich sind.

[1] Mithilfe eines eigens erarbeiteten Bedürfnisbegriffes habe ich versucht, den Zusammenhang zwischen Mehrwertproduktion, kapitalistischen sozialen Organisationsformen sowie einer imperialen geopolitischen Verteilung von Ressourcen und Vulnerabilitäten zu skizzieren und diese wiederum als konstitutive Elemente einer Ermittlung spätkapitalistischer Bedürfnisstrukturen zu bestimmen – ganz im Sinne Max Horkheimers, dass im Bedürfnis die gesamte soziale Ordnung enthalten ist.

 

Altaira Caldarella wohnt in Frankfurt am Main, ist eine marxistische Feministin sowie Mitglied des Ortsbeirates 2 für ÖkolinX – Antirassistische Liste. Zuletzt hat sie sich in ihrer Masterarbeit in politischer Theorie mit dem Thema A Need for Liberation. Critical Reflections on the Notion of Need from a Marxist Feminist Perspective befasst. Zuvor studierte sie Philosophie, Gender Studies und internationale Studien in Kyoto, Bologna und New York City.