Abstract von Prof. Dr. Ilse Lenz

Antifeminismus und Antigenderismus sind keine kurzfristigen Konjunkturerscheinungen, sondern darin geht es um die Zukunft des Geschlechts in der gegenwärtigen Modernisierung in Europa. Der ultrareligiöse und rechtsextreme Antifeminismus will die Freiheit und Selbstbestimmung in der Sexualität und im Kinderbekommen/Gebären einschränken oder abschaffen. In Verbindung mit dem Rassismus ist er besonders erfolgreich, indem er Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Gewalt auf die abwälzt, die er zu ‚Anderen‘ von draußen macht. Weil es darum geht, wie die Zukunft des Geschlechts aussehen soll, bleiben die Ansätze hilflos, die nur die Fehler oder die Haßsprache des Antifeminismus kritisieren und angreifen. Vielmehr braucht es überzeugende Ansätze und Visionen dafür:

  1. Warum ist ‚Geschlecht‘ wichtig, um die gegenwärtigen Probleme sachlich zu untersuchen und zu lösen?
  2. Wie kann ein gutes Leben für alle Geschlechter in einem demokratischen Europa erreicht werden?

Ich will zu diesen Fragen etwas aus der Sicht der Konfliktsoziologie und der Ungleichheitssoziologie sagen.

Die Konfliktsoziologie zeigt auf, dass die zwei Beteiligten in einem Konflikt sich miteinander auseinandersetzen, sich aber zugleich um einen ‚Dritten‘ bemühen – nämlich um alle Menschen, die in der politischen Gemeinschaft leben. Die Beteiligten versuchen also, die Medien, das Internet, die Parteien und diese Menschen zu erreichen und mit ihren Inhalten und Forderungen zu beeinflussen oder zu überzeugen. Dies ist in der Regel mittelfristig nur möglich, wenn diese Forderungen gerecht erscheinen. Und das wiederum erfordert von den liberalen und progressiven Bewegungen, dass sie darüber nachdenken und das überzeugend begründen können. In anderen Worten müssen sie reflexiv werden – auch im Blick auf sich selbst und Ausschlüsse oder Ungerechtigkeiten, die sie vielleicht begehen.

In den letzten Jahrzehnten haben feministische und queere Bewegungen in Anschluss an Michel Foucault Gerechtigkeit vor allem damit verbunden, dass niemand ausgeschlossen werden soll und damit waren sie weithin erfolgreich. Zugleich wurden queere und zugewanderte Menschen etwa durch Diversity-Politiken in den Kapitalismus eingeschlossen. In der gegenwärtigen Modernisierung mit ihren verschiedenen Unsicherheiten und Ungleichheiten (Anerkennung, Beschäftigung, Gewalt, Wohnung) ist soziale Gerechtigkeit weiter und vielfältiger zu denken als nur nach dem Maßstab von Ausschluss und Einschluss. Fruchtbringend sind intersektionale Zugänge, in denen Ungleichheit nach Geschlecht, Klasse, Migration und Sexualität untersucht wird.

Weiterhin sind Entwürfe und Visionen weiterführend, wie gutes Leben für alle Geschlechter (auch in bezug auf Körper) aussehen kann und soll: Sexuelle und reproduktive Gesundheit heißt zum Beispiel in der Praxis gute Beratung und Versorgung für Gebärende/ Schwangere, Abtreibungen, Homosexuelle und Trans*.

Liberale und progressive Bewegungen müssen aber auch Geschlechterdemokratie in dem Sinne umsetzen, dass sie diese Ansätze demokratisch diskutieren und verwirklichen. Sie müssen verdeutlichen, warum damit ein besseres Leben und mehr Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Beteiligung im Alltag verbunden sind. In demokratischen Prozessen müssen sie dann breite Mehrheiten dafür gewinnen und sie müssen die Wege und Methoden dafür entwickeln und anwenden.